Anschlag in Hanau: Das Leben der anderen
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Çetin Gültekin hat bei dem Anschlag in Hanau seinen jüngeren Bruder Gökhan verloren.
Fünf Jahre ist der Anschlag von Hanau her. Die Mehrheitsgesellschaft ist längst mit anderen Themen beschäftigt – und die Gefahr von rechts wächst ungestört weiter.
19. Februar 2025, 9:04 Uhr
Artikelzusammenfassung
Hanau kämpft gegen das Vergessen, fünf Jahre nachdem ein Rechtsextremer neun Menschen ermordete. Die Weltlage lenkt immer wieder von Hanau ab, während Rassismus wächst. Die Mehrheitsgesellschaft fühlt sich nicht betroffen, bis sie selbst zur Zielscheibe wird. Die Angehörigen der Opfer kämpfen für Gerechtigkeit und Veränderung, für bessere Entschädigung und ein funktionierendes Notrufsystem. Sie erinnern an die Namen der Opfer und stehen für Zivilcourage und Solidarität ein.
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Donald Trump zündet gerade mal wieder die Welt an, jedenfalls jene Teile, die nicht schon Putin abgefackelt hat. Der Nahe Osten brennt längst lichterloh, die Bundesregierung ist ausgebrannt. So weit die Weltlage. Und mittendrin liegt Hanau, ist mit dieser Weltlage eng verbunden und kämpft dagegen an, vergessen zu werden.
Fünf Jahre ist es her, dass ein Rechtsextremer neun Menschen aus rassistischen Motiven ermordete. Erschossen im Kiosk, in Cafés und im eigenen Auto. Beim Fußballgucken mit Freunden, beim Pizzaholen für die Kinder, bei der Arbeit. Bei dem Versuch, den Täter davon abzubringen, noch mehr Menschen umzubringen. Gezielte Hinrichtungen durch einen trainierten Sportschützen, der bereits als Rassist aufgefallen war, der bei der Polizei bekannt war, der nachgewiesene psychische Probleme hatte. Der trotz allem Waffen besitzen durfte.
"Nie wieder" forderten danach Kommentatorinnen und Politiker, so wie sie es schon nach den NSU-Morden forderten, dem Mord an Walter Lübcke, dem Anschlag von Halle und dem vom OEZ in München. So wie es weltweit gefordert wurde nach den Anschlägen von Christchurch und Utøya, den Unruhen und dem Anschlag von Charlottesville. Ach, und auch wie nach den rassistischen Brandanschlägen von Solingen, Mölln, Hoyerswerda und Co. in den Neunzigern.
Ein kurzer Moment der Hoffnung – vorbei
Tatsächlich schien es nach Hanau für einen Augenblick so, als könne sich etwas verbessern. Als sei genug irgendwann tatsächlich mal genug. Ein Kabinettsausschuss gegen Rechtsextremismus wurde eingesetzt, ein 89-Punkte-Plan gegen Rassismus erarbeitet.
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Der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer, der 2018 noch Migration als die Mutter aller Probleme bezeichnete, sagte am Tag nach dem Anschlag: Die größte Gefahr in diesem Land geht von rechts aus.
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Der Drive hielt ein paar Monate an, dann verpuffte die Energie langsam. Die Pandemie 2020 stärkte rechte Verschwörungsmythen, die Bundestagswahl 2021 war auch geprägt vom Kampf gegen die AfD, der russische Angriff auf die Ukraine 2022 trieb Hunderttausende Geflüchtete nach Deutschland, das Massaker der Hamas und Israels Krieg in Gaza 2023 schürten auch hierzulande antisemitische und islamfeindliche Ressentiments, ganz zu Schweigen vom islamistischen Terror seit 2024 – Jahr um Jahr folgte Krise um Krise. Wohin noch mit der Aufmerksamkeit, woher die Empathie nehmen? Wie nicht abstumpfen? Wovor denn noch Angst haben?
Der Anschlag in Hanau
Ein Jahr nach Hanau: "63454"
Anschlag von Hanau: Aus dem Leben
Anschlag in Hanau: Doch, so etwas passiert in Deutschland
Jedes Jahr aufs Neue berührte die Weltlage Hanau, indem sie davon ablenkte. Rassismus wurde zum Randproblem, während er in den USA, in Italien, Frankreich und Deutschland wuchs. Die Mehrheitsgesellschaft fühlt sich davon schließlich nicht betroffen. Sie fühlt sich bedroht von steigenden Preisen, aber nicht von Morddrohungen des NSU 2.0. Sie fühlt sich bedroht von Geflüchteten, aber nicht von gewaltbereiten Neonazis in Teilen Deutschlands. Sie fühlt sich bedroht von einem Heizungsgesetz, aber nicht von den Massenabschiebungsfantasien der Neuen Rechten.
Sie ist ja auch nicht mitgemeint, wenn auf Dorffesten von Sylt bis München "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus" gegrölt wird und kaum jemand dagegen die Stimme erhebt. Sie nimmt allenfalls peripher wahr, wenn Geflüchtetenheime angezündet werden, wenn nach Hanau auf Shishabars geschossen wird, wenn Deutsche auf Geflüchtete einstechen, wenn Kanzlerkandidaten vom Sozialtourismus und von kleinen Paschas sprechen. Sie scheint auch das Bröckeln einer Brandmauer für nicht allzu bedrohlich zu halten, denn das, was dahinter lauert, bedroht ja nicht in erster Linie sie. Sondern "die anderen".
Starker Staat, Kollateralschäden inbegriffen
So geht diese Mehrheitsgesellschaft mit betroffener Miene, aber nicht wirklich betroffen durchs Leben. Solange, bis sie selbst zur Zielscheibe wird. Von islamistischen Fanatikern, die mit Autos in Menschenmengen fahren und mit Messern auf Kinder einstechen. Übelster Terror, skrupellos, die Demokratie und die Werte der freien Welt miss- und verachtend. Enthemmt und brutal, und durch nichts zu beschönigen.
Dieser Terror muss auch so benannt werden. Natürlich muss der Staat entschlossen handeln und alle Möglichkeiten ausschöpfen, seine Bürgerinnen und Bürger bestmöglich zu schützen. Und natürlich lässt sich rechter Terror nicht gegen anderen aufrechnen und umgekehrt. Es gibt daran nichts zu relativieren. Es gibt aber doch einen Unterschied: Von dem einen fühlen sich alle bedroht, von dem anderen nicht.
Christian Vooren
Reporter für Politik und Gesellschaft
Nach den Anschlägen von Mannheim, Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg und München wurden zahlreiche Sicherheitsversprechen abgegeben. Mehr Bundespolizisten, Grenzkontrollen, Messerverbote, Abschiebungen – nach dem Willen des Bundeskanzlers "im großen Stil"–, Waffenverbotszonen. Das alles in atemberaubendem Tempo, der Staat zeigt Stärke. Sogar die Grünen waren mit an Bord.
Der Wunsch nach einer gewissen Entschlossenheit mag richtig und verständlich sein. Nur scheint niemand so recht über den Kollateralschaden nachgedacht zu haben. Den verursachen nicht mal die Maßnahmen selbst, der entsteht schon in der Kommunikation. Es wird suggeriert, dass Geflüchtete per se eine Gefahr seien. Migrantisch gelesene Menschen mit deutschem Pass sind mitgemeint. Muslime auch. Prävention und Integration sind nicht mal mehr Thema, Humanität verkommt zu einem Kampfbegriff der Linken, die Union hält die Grünen für den Hauptfeind, wer Faschisten als solche benennt, ist nicht mehr Demokrat, sondern schon links. Und wer da nicht mitgeht, ist elitär, woke oder naiv. Unnötig zu erwähnen, dass die Mehrheitsgesellschaft sich in der Regel auch nicht angesprochen fühlt, wenn rassistische Reflexe als solche benannt werden. Und die Faschisten in der AfD applaudieren und stehen bei 20 Prozent. Fünf Jahre nach Hanau ist rassistisches Gedankengut kein Stigma mehr, sondern eine Wahlentscheidung für jeden fünften Deutschen.
Aufarbeitung, auch für die weiße Mehrheitsgesellschaft
Der Rechtsextremismus ist nach wie vor die größte Gefahr für die Demokratie. Und doch ist offensichtlich nicht mehr dieser Satz von Seehofer das Leitmotiv, sondern der von 2018: "Migration ist die Mutter aller Probleme." Das Gefühl siegt über die Fakten.
Das ist der Sturm, in dem die Angehörigen der Opfer von Hanau seit fünf Jahren stehen. Sie haben damit viel geleistet. Für sich selbst, für den Kampf gegen Rassismus, für die Mehrheitsgesellschaft, die bis heute daran scheitert, sie wirklich in ihre Mitte einzuschließen. Am vergangenen Samstag organisierten sie in Hanau eine Gedenkveranstaltung. Es wurden Filme gezeigt, es wurde Musik gespielt, ein Ausschnitt aus einem Theaterstück über den Anschlag und seine Folgen. Es wurden mehrere Reden gehalten, nachdenkliche, wütende, konstruktive. Es ging um Zivilcourage, Solidarität, ums selbstbestimmte Erinnern. Es sprachen auch Angehörige und Überlebende. Sie haben an diesem Tag, der dem eigenen Trauern gehört, auch der Opfer der jüngsten islamistischen Anschläge gedacht. Haben den Fanatismus dieser Taten scharf verurteilt. Eine empathische Geste – etwas, das man sich in diesem kalten, von Zahlen und Angst getriebenen Wahlkampf dringend wünschen würde.
Rechtsruck in Deutschland
Wandel in der Politik: Die German Angst regiert
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Die Angehörigen stehen für etwas ein, obwohl sie trauern müssten. Sie kämpfen für Gerechtigkeit, für sich selbst, aber auch für andere. Gegen Widerstände in Behörden, die niemals die eigenen Fehler einzusehen scheinen. Gegen Politiker, die sich weigern, Verantwortung zu übernehmen. Gegen andauernde Respektlosigkeiten aus dem Hanauer Rathaus. Gegen die Trägheit der Aufarbeitung in einem Untersuchungsausschuss, der vor allem eine parlamentarische Peinlichkeit war.
Sie haben gekämpft für Aufklärung und für Veränderung. Etwa für einen funktionierenden Notruf, damit in Zukunft nicht noch mehr Menschen sterben müssen, weil Anrufe bei der 110 nicht angenommen werden können. Das war in Hanau der Fall. Sie kämpften dafür, dass Opfer von Terroranschlägen und ihre Hinterbliebenen besser entschädigt werden. Diese Hilfen kommen auch den Opfern islamistischer Anschläge zugute. Hier berührt Hanau die Weltlage, nicht umgekehrt. Für schärferes Waffenrecht. Sie kämpften und kämpfen für vieles, was ihnen bis heute verwehrt wird. Und sie kämpfen dafür, dass die Namen der Opfer nicht vergessen werden. Sie lauten Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu und Said Nesar Hashemi.