Leichtathletik-WM: Jakob Ingebrigtsen verliert 1500-Meter-Gold bei ...
Der WM-Titel über 1500 Meter fehlt Jakob Ingebrigtsen noch. Nach der bitteren Niederlage im Finale des Vorjahres muss sich der Lauf-Superstar auch in Budapest geschlagen geben. Die Parallelen dabei sind beeindruckend bis absurd.
Jakob Ingebrigtsen schaute ratlos in den dunklen Abendhimmel über Budapest. Wieder war der Norweger als klarer Favorit ins WM-Finale über 1500 Meter gegangen. Wieder hatte der Europarekordhalter sich früh im Rennen an die Spitze des Feldes gesetzt und ein hohes Tempo vorgegeben, wie schon im vergangenen Jahr im Endlauf der WM in Eugene. Um als Führender in die entscheidende Phase zu gehen, um die Kontrolle über das Renngeschehen zu haben. Um endlich sein ersehntes erstes WM-Gold über diese prestigeträchtige Strecke zu gewinnen. Doch was ein triumphaler Sieg werden sollte, endete in einem kaum zu glaubenden Déjà-vu.
"Die letzten Momente dieses Rennens werden sich für lange Zeit in meinem Gehirn einbrennen", sagte Josh Kerr, der nach 3:29,38 Minuten völlig überraschend als Erster ins Ziel gestürmt war. Eine Leistung, die ihm die "absolute Anerkennung" des geschlagenen Ingebrigtsen einbrachte. Der sicherte sich in 3:29,65 Minuten knapp vor seinem norwegischen Teamkollegen Narve Gilje Nordas (3:29,68) den zweiten Platz. Mit dem verbindet ihn offenbar ein arg angespanntes "Nicht-Verhältnis", aber dazu später mehr.
Zunächst zum bemerkenswerten Déjà-vu: Wie vor zwölf Monaten musste der vermeintlich unschlagbare Ingebrigtsen auf den letzten 200 Metern des WM-Finals einen britischen Mittelstreckler passieren lassen. Damals Jake Wightman, diesmal Kerr - die nicht nur beide das gleiche Nationaltrikot tragen, sondern auch für denselben schottischen Verein laufen. Der Journalist Jonathan Gault twitterte ein Bild der beiden aus Jugendtagen. "Es ist verrückt", sagte Kerr nach seinem Sensationssieg, "dass der Edinburgh Athletics Club zweimal in Folge den Weltmeister stellt." Er hätte es auch absurd nennen können, irrwitzig, spektakulär, wahnsinnig oder schlicht unglaublich - all diese Worte wären absolut zutreffend gewesen.
Ingebrigtsen legt körperliche Beschwerden offenSchließlich hatte Ingebrigtsen in dieser Saison nicht nur all seine 1500-Meter-Rennen gewonnen, sondern dabei auch zweimal seinen eigenen Europarekord verbessert. Als erst sechster Läufer in der Leichtathletik-Geschichte war der immer noch erst 22-Jährige dabei unter 3:28,00 Minuten geblieben, auch das gleich zweimal: im Juni in Oslo (3:27,95) und im Juli im polnischen Chorzow (3:27,14). Und trotzdem stand er nun wieder im Ziel eines WM-Endlaufs und musste mit ansehen, wie ein britischer Außenseiter ein komplett unwahrscheinliches Gold feierte. Wobei, auch das gehört zur Wahrheit, Kerr selbst offenbar von vornherein an seine Chance geglaubt hatte.
"Josh hat mir im Bus gesagt", twitterte der britische Sprinter Adam Gemili, "dass er gewinnt, wenn er 200 Meter vor dem Ziel noch an Ingebrigtsen dran ist." Früh hatte Kerr sich hinter Ingebrigtsen gesetzt. War an Position zwei gelaufen, im Windschatten des Favoriten. Um sich dann fast auf den Punkt genau 200 Meter vor dem Ziel außen auf dessen Höhe zu schieben und auf der Zielgeraden mit allem zu attackieren, was der Körper noch hergibt. Ingebrigtsen konnte lange dagegen halten, aber keinen Konter mehr setzen. "Ich wusste 50 Meter vor dem Ziel, dass ich ihn geknackt habe", sagte Kerr: "Auf den letzten 30 Metern habe ich gedacht, dass ich das so sehr will, dass es mir egal war, wie weh das gerade tut - ich wollte einfach alles dafür geben, als Erster anzukommen."
Ingebrigtsen, der im Halbfinal-Schlussspurt noch mit einer Geste irgendwo zwischen übergroßem Selbstvertrauen und unsportlicher Arroganz das Publikum zum Anfeuern animiert hatte, suchte derweil nach Erklärungen. "Ich habe versucht, 100 Prozent zu geben, aber das ist schwierig, wenn du dich nicht 100 Prozent fit fühlst."
Er sprach von einem "trockenen Hals", der sich schon im Halbfinale bemerkbar gemacht habe und "über die letzten beiden Tage schlimmer geworden" sei. Am Morgen des Finaltags sei es zwar "etwas besser" gewesen, auf dem Aufwärmplatz aber trotzdem noch störend. Im norwegischen Fernsehen wollte Ingebrigtsen das jedoch augenscheinlich nicht als Ausrede gelten lassen: "Ich hatte gehofft, dass es reicht, aber es hat nicht gereicht."
Streit in der Familie IngebrigtsenStatt also auf den letzten Metern noch um Gold zu kämpfen, hätte Ingebrigtsen fast auch noch Silber verloren. Sein Teamkollege Narve Gilje Nordas kam immer näher und hatte im Ergebnis nur noch 0,03 Sekunden Rückstand. Ein paar Meter und er wäre wohl vorbeigezogen. Zwei Medaillen für Norwegen, das klingt nach einem Anlass zur gemeinsamen Freude - die Bilder aus dem Zielraum aber zeigen nur einen unterkühlten Handschlag mit reichlich Sicherheitsabstand.
Auslöser ist, so berichtet es der Schweizer "Tagesanzeiger", eine Posse um Gjert Ingebrigtsen. Dieser machte seine Söhne Henrik, Filip und Jakob allesamt zu Europameistern über 1500 Meter, trainierte sie viele Jahre lang. "Im vergangenen Jahr allerdings ist er bei ihnen in Ungnade gefallen, über den Grund kann man nur spekulieren" heißt es im "Tagesanzeiger", öffentlich darüber reden möchte anscheinend keiner der Beteiligten.
Gesichert ist dagegen, dass Gjert Ingebrigtsen stattdessen nun Narve Gilje Nordas betreut. Weil Vater Ingebrigtsen für die Wettkämpfe in Budapest über Norwegens Verband keine Akkreditierung erhalten habe, sei Nordas sogar aus dem Teamhotel aus- und in die Unterkunft seines Trainers eingezogen. Der "Tagesanzeiger" zitiert den frisch gekürten WM-Dritten mit den Worten, "die Beziehung zu Jakob ist ohnehin inexistent".
Was zumindest erklären dürfte, warum Nordas seine Bronzemedaille unter anderem so kommentierte: "Ich hoffe, dass ich bei den Olympischen Spielen in Paris noch besser vorbereitet bin und ihn mir dann schnappen kann." Womöglich sollte er dafür über einen Wechsel nach Schottland nachdenken: zu den Ingebrigtsen-Bezwingern vom Edinburgh Athletics Club.