Actionszenen der Weltliteratur: Die Gruppe 47 boykottiert Springer
In den 20 Jahren ihrer Existenz tummelte sich in der Gruppe 47 so ziemlich alles, was in der Schriftsteller- und Kritikerszene der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit Rang und Namen hatte, von Günter Grass bis Martin Walser und von Walter Jens bis Marcel Reich-Ranicki. Die Geschichte der Vereinigung, die als mächtiges Kartell Literaturgeschichte geschrieben hat, kann man bei Helmut Böttiger und Peter Magenau nachlesen, hier soll es nur um eine Episode gehen.
Vom 5. bis 8. Oktober 1967 tagte die Gruppe 47 in der Pension „Pulvermühle“ in Waischenfeld in Oberfranken. Es ist – was damals noch niemand weiß – das letzte Treffen der Gruppe, überschattet von der Studentenrevolte. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) hat im Sommer 1967 die Parole „Enteignet Springer“ in Umlauf gebracht. Bereits im April hatte der Schriftsteller Reinhard Lettau die Zeitungen des Axel Springer Verlags im Audimax der Freien Universität Berlin diffamiert – man wirft ihnen ein „Meinungsmonopol“, vor allem aber, nicht ganz zu unrecht, die Ablehnung der Studentenbewegung.
Nun, auf der Tagung der Gruppe 47, diskutiert Lettau mit Schriftstellerkollegen über die Springer-Presse. Über Nacht entsteht eine Resolution, die 80 der circa 120 anwesenden Autoren unterzeichnen, darunter auch Grass und Walser. In der Resolution erklären die Schriftsteller, nicht mehr in der Springer-Presse zu veröffentlichen, und sie fordern ihre Verleger auf, dort auch keine Anzeigen mehr zu schalten. Hanser, Piper, Luchterhand, Rowohlt, Suhrkamp, Wagenbach und Kiepenheuer & Witsch – sieben namhafte deutsche Verlage unterschreiben die Resolution wenige Tage später, als die Frankfurter Buchmesse beginnt.
Ein von Klaus Staeck gestaltetes und von Peter Rühmkorf getextetes Plakat lädt die Messebesucher des Jahres 1967 ein, sich in Halle BE, Stand K 137 näher über die Resolution zu informieren:
Das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ berichtet damals hämisch, dass dies „als turbulentes Springer-Happening in Erinnerung bleiben wird“: Denn SDS-Studenten protestieren in den Messehallen und belagern Stände nach der Art der damals modischen Teach-ins. Sie verteilen Flugblätter, auf denen Springer-Zeitungen „Manipulation“ vorgeworfen wird. Außerdem rufen sie „Springer-Presse halt die Fresse“ und zerreißen „Die Welt der Literatur“ (die damalige Literaturbeilage der WELT). Beim Ullstein Verlag, der damals zu Springer gehört, zerfetzen sie Prospekte und skandieren: „Klaut die Bücher dieser Viecher“.
Derweil geht aus einer 2010 veröffentlichten Chronik des Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld hervor, dass er bei aller Solidarität für seine Autoren Unmut empfand, als rund 100 SDS-Studenten am „Welt der Literatur“-Stand protestierten. Da habe er, Unseld, sich mit Verlegerkollegen vor den „Welt der Literatur“-Stand gestellt: „Unsere Argumente, daß diese Demonstration rechtswidrig sei, daß sie gegen die Messeordnung verstoße und daß sie den Messefrieden verletze, wurden natürlich nur mit Hohnlachen aufgenommen“, notiert Unseld. Dann habe er „den Studenten sehr deutlich erklärt, daß ich dieses Vorgehen nicht dulden könne und daß ich persönlich und auch mit dem, was ich vom Suhrkamp Verlag her vertrete, gegen dieses Vorgehen sei und daß ich dafür eintreten würde, daß der Stand der ‚Welt der Literatur’seine Zeitung, solange die Messe dauere, hier anzeigen könne.“ Unselds Bitte um Mäßigung wurde laut „Spiegel“ aber murrend akzeptiert und mit den Worten quittiert: „Ja, Onkel Unseld“.
Im Jahr 1968 folgt noch eine Messe mit Tumult. Nun protestiert der SDS gegen einen Messebesuch des Politikers Franz Josef Strauß. Unter dem Motto „Belagert die Buchmesse – Besetzt die Paulskirche“ versuchen die Studenten, auch die Vergabe des Friedenspreises an den senegalesischen Staatspräsidenten und Schriftsteller Léopold Sédar Senghor zu verhindern.
Alles Schriftstellerleben sei Papier, heißt es. In dieser Reihe treten wir den Gegenbeweis an.