Mutmaßlicher Anschlag in München: Dieses Mal ist es München
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Ein cremeweißer Mini Cooper steht im Nieselregen mitten auf einer Kreuzung in der Münchener Maxvorstadt. Der Kofferraum und die Seitentüren sind offen, die Frontscheibe ist eingedrückt. Um das Fahrzeug herum liegen Regenschirme, gelbe Warnwesten und Fahnen. Ein kaputter Kinderwagen liegt neben einem einzelnen Schuh. Ein schauriges Stillleben, umrahmt von Flatterband. Beamte der Spurensicherung verteilen Plaketten mit Ziffern neben den Gegenständen. Der Kinderwagen bekommt die Nummer 14. Auf der Motorhaube platzieren Polizisten in Warnweste die Ziffer 3.
Am Donnerstagvormittag ist die Kreuzung in Sichtweite des Münchener Hauptbahnhofs zum Tatort geworden. Etwa 1.500 ver.di-Mitglieder mit Trillerpfeifen und Plakaten sind auf dem Weg zum Königsplatz, wo die Gewerkschaft eine Abschlusskundgebung abhalten will. Unter ihnen sind Erzieherinnen und Erzieher, Mitarbeiter der Stadtwerke, der Musikschule und aus dem Landratsamt. Gegen 10.30 Uhr steuert der Mini Cooper auf das Ende des Streikzugs zu. Am Steuer sitzt Farhad N., ein 24-jähriger Afghane. Er lenkt den Wagen an mehreren Polizeiautos vorbei, die die Demonstrierenden begleiteten. Dann beschleunigt er das Fahrzeug und rast in den hinteren Teil des Demonstrationszugs. Polizisten geben einen Schuss ab, um den Fahrer zu stoppen, und nehmen ihn kurz darauf fest. Die Polizei spricht von 30 Verletzten. Einige davon sind schwer- oder schwerst verletzt, darunter ein zweijähriges Kind.
Wieder fährt ein Auto in eine Menschenmenge, diese Tat erschüttert das ganze Land. Sollte sich in München der Anschlagsverdacht bestätigen, wäre es der vierte in nur neun Monaten: Mannheim, Solingen, Magdeburg und jetzt womöglich München. Wie schon in Magdeburg macht der Täter sein Auto zur Waffe, steuert es in eine friedliche Menschenmenge, diesmal ein Demonstrationszug protestierender ver.di-Mitglieder. Unter den Opfern befinden sich Kleinkinder, wie auch beim Messerangriff eines psychisch kranken, afghanischen Asylbewerbers in Aschaffenburg Ende Januar.
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Und auch, wenn über das Tatmotiv in München noch wenig bekannt ist, beginnen noch am Tatort die politischen Interpretationen. Zehn Tage vor der vorgezogenen Bundestagswahl mischt sich in die Betroffenheit auch Wahlkampfgetöse. Nach Aschaffenburg endete das mit einer gemeinsamen Abstimmung von CDU und AfD im Bundestag und der symbolischen Absichtserklärung, das Asylrecht zu verschärfen. Auch der Anschlag von München wird dem Wahlkampf wohl noch einmal eine neue Dynamik geben.
"Ver.di - zusammen geht mehr", steht auf den Westen der Ordner, jetzt liegen sie auf dem Asphalt, verknäult und vom Regen aufgeweicht. Über dem Tatort kreist ein Hubschrauber, 300 Einsatzkräfte sind im Einsatz. Antoni, Azubi bei den Stadtwerken München, stand in Sichtweite, als das Auto auf Kollegen von ihm zufuhr. Er habe gehört, wie alle auf einmal angefangen hätten zu schreien. Es sei alles so schnell gegangen. Als er sich umdrehte, habe er Verletzte gesehen. Zehn vielleicht auch fünfzehn Menschen seien am Boden gelegen. "Es ist schrecklich. Ich brauche Zeit, um das alles zu realisieren", sagt Antoni. Mit gelber Warnweste steht er vor dem Wirtshaus Löwenbräu München, mitten in der bayerischen Landeshauptstadt. Hier, wenige Hundert Meter vom Tatort entfernt, hat die Polizei kurzfristig ein Zentrum zur Aufnahme von Zeugenaussagen eingerichtet.
Die Gewerkschaft ver.di zeigt sich in einem Statement bestürzt und schockiert. Man sei in Gedanken bei den unschuldigen Opfern und Verletzten und ihren Angehörigen und danke den Helfern für ihren Einsatz. Dies sei ein schwerer Moment für alle Kolleginnen und Kollegen. "Wir Gewerkschaften stehen für ein solidarisches Miteinander, gerade auch in so einer dunklen Stunde." An Spekulationen wolle man sich nicht beteiligen und die Ermittlungen der Polizei abwarten.
Auf Social Media folgen ihm Zehntausende
Im Internet kursieren zu dem Zeitpunkt Videos, wie ein junger Mann, schwarze Hose, oberkörperfrei, von Beamten an Armen und Beinen gepackt wird. Sein Name ist Farhad N. Nach übereinstimmenden Medienberichten wurde er 2001 in Kabul geboren und kam 2016 als unbegleiteter Minderjähriger aus Afghanistan über Italien nach Deutschland. Eine Einrichtung für Jugendhilfe hatte den damals 16-Jährigen in Obhut genommen. Kurz darauf stellte N. einen Asylantrag, der im September 2017 abgelehnt wurde. Später habe N. jedoch einen Aufenthaltstitel und eine Arbeitserlaubnis von der Stadt München erhalten. Die Polizei kannte ihn nach eigenen Angaben, weil er als Ladendetektiv gearbeitet habe.
Auf sozialen Medien folgten Farhad N. mehrere Zehntausend Menschen. Der 24-Jährige war erfolgreicher Bodybuilder, hat sogar Meistertitel gewonnen. Zudem arbeitete er als Fitness-Model. Unter seine Fotos in den sozialen Netzwerken schrieb er oft religiöse Botschaften, islamistische Bezüge sind auf den ersten Blick nicht erkennbar. Laut Spiegel soll N. vor der Tat jedoch mutmaßlich islamistische Posts abgesetzt haben. Nach Einschätzung der Ermittlungsbehörden habe Farhad N. die Streikenden zufällig als Ziel seines Angriffs gewählt. Am Donnerstagnachmittag haben Ermittler seine Wohnung durchsucht.
Am morgigen Freitag beginnt die Münchener Sicherheitskonferenz. "Is the city safe?", möchte der CNN-Reporter vom Pressesprecher der Polizei wissen. Einen Tatbezug zur Konferenz schließt die Polizei aus. Man sei das ganze Wochenende mit 5.000 Beamten im Einsatz, um die Staatsgäste zu schützen.
Zwei Stunden nachdem das Auto in die Menschenmenge gefahren war, trifft Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) am Tatort ein, um sich ein Bild von der Lage zu verschaffen. Er richtet seinen Blick auf den verlassenen Mini Cooper und die zerstreuten Gegenstände drumherum, dreht sich dann den Reportermikrofonen zu. Den Hut tief ins Gesicht gezogen, spricht Söder von einem mutmaßlichen Anschlag. Neben der Aufarbeitung des Einzelfalls und der Anteilnahme müsse der Vorfall Konsequenzen nach sich ziehen. "Wir können nicht von Anschlag zu Anschlag gehen und Betroffenheit zeigen, sondern müssen auch tatsächlich etwas ändern", sagt Söder.
Während der Ministerpräsident spricht, haben die ersten Münchener Trauerlichter und Blumen neben das Flatterband am Tatort gelegt. Auf einem der Lichter steht handschriftlich: "Nutzt den Anschlag nicht für den Wahlkampf." Das Wort "nicht" ist unterstrichen.
Doch zehn Tage vor der Bundestagswahl bleibt das ein frommer Wunsch. Bereits wenige Stunden nach der Tat haben sich die Kanzlerkandidaten aller Parteien geäußert. Olaf Scholz, Friedrich Merz, Robert Habeck, Alice Weidel oder Christian Lindner – sie alle machen München zum Wahlkampfthema, deuten und interpretieren das Geschehen, über das bisher noch nicht so viel bekannt ist.
Von Sicherheitsoffensive bis Migrationswende
CDU-Chef Friedrich Merz verspricht mit Blick auf die anstehende Wahl, "Recht und Ordnung konsequent durchsetzen" zu wollen. Kanzler Olaf Scholz und Innenministerin Nancy Faeser kündigen an, nach Afghanistan abschieben zu wollen. Grünen-Kandidat Habeck fordert eine Sicherheitsoffensive und AfD-Chefin Weidel drängt auf das, was sie "Migrationswende" nennt. Die bayerische AfD fordert zudem Söder zum Rücktritt auf und machte ihn "politisch verantwortlich" für die Tat, weil dieser "nicht in der Lage" sei, für die Sicherheit der Menschen in Bayern zu sorgen.
Auf einer anderen neben dem Tatort abgestellten Kerze steht mahnend: "Die Täter stehen nicht für alle Geflüchteten." Passend dazu distanziert sich der afghanische Kulturverein Farhang aus München mit deutlichen Worten von dem mutmaßlichen Anschlag: "Das ist barbarisch, das ist unmenschlich", sagte der Vorsitzende Mohammad Imran Sediqi. "Solche Menschen gehören nicht nach Deutschland. Die sind eine Gefahr für ganz Deutschland und auch für die afghanische Community." Selbst wenn der mutmaßliche Täter depressiv oder traumatisiert sein sollte, sei dies keine Entschuldigung.
Am Tatort hebt kurz vor 18 Uhr ein Kran den Mini Cooper in den Münchener Abendhimmel. Einzelne Schaulustige filmen das Geschehen. In der Hotellobby gegenüber dem Tatort steigt eine Party, das Licht von Discokugeln und Blaulicht spiegelt sich in den Scheiben. Eine lange Schlange bildet sich vor dem Gebäude, die Partygäste sprechen über Yoga-Kurse und Sommerurlaube. Eine Frau fragt in die Freundesgruppe: "Was bewegt einen Menschen, so eine Tat zu begehen?" Diese Frage bleibt an diesem Abend unbeantwortet.
Am anderthalb Kilometer entfernten Odeonsplatz demonstrieren am Abend linke Gewerkschafter. Ein Polizeihubschrauber kreist, mindestens 1.000 Menschen sind gekommen, die Veranstalter sprechen von bis zu 5.000 Teilnehmenden. Die Redner und Rednerinnen bekunden ihr Mitgefühl für die Opfer. Und sie sagen auch, solche Ereignisse dürften nicht genutzt werden, um gegen Zugewanderte zu hetzen.
Mitarbeit: Patrik Schwarz