Der Polizeiruf 110: Jenseits des Rechts mit Johanna Wokalek
Es gibt so viele Kommissarinnen und Kommissare im deutschen Fernsehen, dass man sich bei jeder neuen Besetzung fragt, ob da eine Schauspielerin noch einen Stich machen kann. Kann man dem Fach darstellerisch noch etwas abgewinnen? Es scheint schon alles da zu sein: Die Wiener Grantlerin Major Bibi Fellner (Adele Neuhauser), die Working Mom mit schwierigem Privatleben (Maria Furtwängler), die Mannheimerin mit Ecken und Kanten (Ulrike Folkerts) oder Doreen Brasch (Claudia Michelsen), die einen kreativen Umgang mit dem Gesetz pflegt. Wer am Sonntag den „Polizeiruf 110“ sieht, erlebt mit der Münchnerin Cris Blohm eine Hauptkommissarin, die tatsächlich einen anderen Zugang zum Verbrechen findet.
Sie ist zierlich und zäh, eigensinnig und bescheiden
Zu verdanken ist das Johanna Wokalek, die in ihrem dritten Fall in der Regie von Dominik Graf in die Amateurporno-Szene gerät. Was macht Wokalek besonders? Die 1975 geborene Schauspielerin, die nach fünfzehn Jahren am Wiener Burgtheater heute in Paris lebt und in „Hierankl“, „Barfuss“ oder „Der Baader Meinhof Komplex“ im Kino brillierte, hat vor allem dieses zarte Gesicht, in dem sich abzeichnet, was sich zusammenbraut, noch bevor der Sturm losbricht.
Ihre Ermittlerin Blohm ist schwer zu durchschauen. Sie ist zierlich und zäh, eigensinnig und bescheiden. Einen neuen Schreibtisch besorgt sie sich auf dem Sperrmüll. Von ihren Gegnern wird sie unterschätzt. Und wenn sie heimlich in ein fremdes Haus schleicht und sich unter einer Baseballkappe versteckt, scheint sie sich selbst einen Scherz zu erlauben mit ihrem Vorbild Columbo. Es dauert, bis diese Cris Blohm „innerlich bockig“ wird, wie sie sagt, aber dann wird sie, was man in Bayern „bolisch“ nennt.
Die Lösung des Falls durchschaut man schnell
Dass Dominik Graf die „Polizeiruf“-Episode mit einem geteilten Bildschirm eröffnet, passt zu diesem Regisseur, der Genreerwartungen gern unterläuft. In der Parallelmontage erleben wir die junge Mia (Emma Preisendanz), die ihrem Therapeuten (Michael Roll) gerade von ihrer neuen Liebe Lucky erzählt, einem Pornofilmer, bei dem sie sich zum ersten Mal seit dem Tod der Mutter wieder „frei“ fühle. Von ihm benutzt zu werden, sagt sie, gebe ihr ein gutes Gefühl. Während der Therapeut sein Entsetzen in Stirnrunzeln zu bändigen sucht, hat der vielversprechende Auftakt leider das Manko, dass man die Lösung des Falls allzu schnell durchschaut. Aber wer schaut schon Krimis, um zu erfahren, wer der Mörder ist?
Hier kann man sich auf das Schauspiel konzentrieren. Cris Blohm ermittelt zunächst mit ihrem Kollegen Dennis Eden (Stephan Zinner), nachdem Lucky tot in seinem Wohnwagen aufgefunden wurde. Doch bald ist Eden außen vor, Blohm ermittelt allein. Das hat einen Grund.
Trailer„Polizeiruf 110: Jenseits des Rechts“
Das Drehbuch zu „Jenseits des Rechts“ von Tobias Kniebe basiert auf einem Gerichtsurteil, das 2012 für Aufmerksamkeit sorgte. Nach einer BGH-Entscheidung darf DNA-Material nur zum Abgleich von Teilnehmern eines Reihengentests genutzt werden, nicht aber, wenn die Spur beispielsweise zu einem anderen Verdächtigen führt, der mit dem Opfer verwandt ist. Im „Polizeiruf“-Fall wird dies als rechtswidrig eingestuft. Cris Blohm und die Rechtsmedizinerin Ambacher (Jule Gartzke) müssen den Täter auf andere Weise überführen.
Blohms Ermittlungen führen in die unterschiedlichsten Kreise. Da ist die schäbige Wohnwagenkolonie der Pornoszene, deren Mitglieder sich für Künstler halten, da ist die wohlhabende Familie Mias, deren Vater sich mit dubiosen Geschäftsleuten einlässt, wogegen Aktivisten vor der Firmenzentrale demonstrieren. Mias Vater (Martin Rapold) will die Sexfilme seiner Tochter aus dem Internet verschwinden lassen, vor allem aus Sorge um den Aktienkurs seiner Firma.
Die Ereignisse kulminieren auf einem Fest von Mias Schwester, bei dem Blohm sich einschleicht, um an ein Haar des Vaters zu kommen. Dass die Polizistin auf einer Party sechzehnjähriger Tiktokerinnen nicht auffällt, verdankt sie nicht ihrer Tarnung. Die Mittvierzigerin ist so unscheinbar wie die graue Wandfarbe der Münchner Villa. Sie fällt nicht auf. Das ist Blohms stärkste Waffe – und wie Wokalek diese Farblosigkeit ausmalt, ist große Kunst.