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Aus für Wrigley's Spearmint: Es geht um mehr als Kaugummi

Aus für Wrigleys Spearmint Es geht um mehr als Kaugummi
Ein Klassiker stirbt: Nach mehr als 100 Jahren nimmt Wrigley seinen Streifenkaugummi Spearmint vom Markt. Die Trauer deutscher Fans ist groß. Auch weil mit Wrigley’s Spearmint ein emotionales Kapitel deutsch-amerikanischer Konsumgeschichte stirbt.

Ein schmaler Streifen graues Kaugummi, eingehüllt in dünnes Papier. Dazwischen noch gezackte Silberfolie, die sich immer ein bisschen seltsam gepudert anfühlte und die sich – leer zusammengefaltet und wieder in die Packung zurückgesteckt – wunderbar eignete, um die Grundschulkumpels zu verkaspern. Dazu der sanfte Duft nach Grüner Minze. Wrigley’s Spearmint ist für Millionen Menschen eine haptische, olfaktorische und geschmackliche Kindheitserinnerung.

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Nun also ist Schluss. Der Lebensmittelkonzern Mars – der die Wrigley Company 2008 für 23 Milliarden US-Dollar übernommen hatte – hat die Produktion eingestellt. Restbestände liegen noch an den letzten Supermarktkassen. Dann ist Feierabend. „War gut. Ist gut. Bleibt gut“, lautete ein Spearmint-Werbespruch 2004. Ja, Pustekuchen. Zu gering war zuletzt die Nachfrage, zu beliebt die Kaugummialternativen in Drageeform (wie Airwaves). Der flache Streifenkaugummi geht damit – wie der Führerscheinlappen, die Telefonkarte oder das mehrseitige Flugticket aus Papier – als nächstes flaches, flächiges Alltagsprodukt in die Konsumgeschichte ein. Das bestätigte der Mars-Konzern.

Leicht gepudertes Papier: Kaugummistreifen der Firma Wrigley.

Leicht gepudertes Papier: Kaugummistreifen der Firma Wrigley.

© Quelle: picture-alliance/ dpa

Die „rückläufigen Entwicklungen“ hätten zu schlechten Verkaufszahlen geführt, heißt es in einer Stellungnahme des Unternehmens. „Etwas Adäquates zu den Kaugummistreifen können wir alternativ leider nicht mehr anbieten.“ Betroffen seien nicht nur der Klassiker Wrigley’s Spearmint, sondern auch seine Streifenkaugummigeschwister Extra und Orbit. Die Dosenform mit 50 umzuckerten Dragees ist inzwischen einfach beliebter. Und wahr ist eben: Nostalgie allein macht noch keinen Umsatz. Eine Erkenntnis, die fast alle Branchen betrifft.

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Schwere Zeiten für hiesige Kindheitsklassiker

Es sind schwere Zeiten für hiesige Kindheitsklassiker: Gerade hat der Pepsico-Konzern die Marke Punica nach 45 Jahren vom Markt genommen. Das Tretautor Kettcar und die Modelleisenbahnmarke Fleischmann starben schon vor einigen Jahren, und Milkas noch immer überaus bekannte Lila Pause (Franziska van Almsick, jemand?) macht sogar schon seit 2007 Pause. Auf dem Friedhof der Kindheitsmarken wird es enger.

Doch anders als Punica oder Lila Pause ist Wrigley’s Spearmint in seiner minimalistischen, rot-weiß-schwarzen Verpackung nicht irgendein Lebensmittel. Das Kaugummi gehört neben Schokolade, Nylonstrumpfhosen und Lucky-Strike-Zigaretten zum legendären Nachkriegsquartett aus raren Waren, mit denen sich vor allem US-Soldaten die Gunst auch der deutschen Bevölkerung zu sichern bemühten. Ein GI mit Kaugummi oder Schokolade erschien längst nicht so bedrohlich wie ein GI ohne Kaugummi oder Schokolade. So wurde Kaugummikauen in den westlichen Besatzungszonen schnell populär, und ein Streifen Spearmint, nach Frische und Süße duftend, war für ein traumatisiertes Kind im zerbombten Deutschland ein kleiner Schatz.

Werbemenschen mit riesigen „Spearmint“-Paketen

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In den Sechziger- und Siebzigerjahren dann wurde das Kaugummi dann zum Massenartikel, erst recht in den Achtzigern, als im Werbefernsehen junge, sportliche Menschen mit riesigen Spearmint-Paketen unter dem Arm, die nicht zufällig an Sporttaschen erinnerten, zu optimistischem Sommerpop durch sonnige Parks spazierten („Wrigley’s-Spearmint-Gum hält dich frisch und bei Laune ...“). Kaugummi wurde im sportversessenen Aerobic-Jahrzehnt, das unter anderem Cola Light, neonfarbene Frotteestirnbänder und Fitnessstudios hervorbrachte, als aktivierendes, jung haltendes Wellness-Accessoire vermarktet. In Wahrheit wurden die Streifen wohl überwiegend an genervte Eltern aufsässiger Kinder im Stressbereich von Supermarktkassen verkauft.

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Die Spearmint-Geschichte reicht deutlich weiter zurück als bis zu den Kriegen des 20. Jahrhunderts. Schon seit 1893 wurden die Kaugummis in mehr oder weniger gleichbleibender Rezeptur in den Fabriken des bald weltgrößten Kaugummiherstellers William Wrigley Jr. Company aus Chicago hergestellt. Wrigley produzierte ursprünglich Seife und Backpulver. Zu Werbezwecken legte die Firma anfangs jedem Stück Seife ein Päckchen Backpulver bei.

 „Jeder kann Kaugummi herstellen. Der Trick ist, ihn zu verkaufen“: Diese Illustration von 1941 zeigt ein elektrisches Werbeschild für „Wrigley's“-Kaugummi am Broadway in New York City. „Jeder kann Kaugummi herstellen. Der Trick ist, ihn zu verkaufen“: Diese Illustration von 1941 zeigt ein elektrisches Werbeschild für „Wrigley's“-Kaugummi am Broadway in New York City.

„Jeder kann Kaugummi herstellen. Der Trick ist, ihn zu verkaufen“: Diese Illustration von 1941 zeigt ein elektrisches Werbeschild für „Wrigley's“-Kaugummi am Broadway in New York City.

© Quelle: picture-alliance / Mary Evans Picture Library

Die Idee ging voll auf – und so wiederholte Wrigley sie kurzerhand: Zu jedem Päckchen Backpulver gab es alsbald zwei Streifen Kaugummi kostenlos. So schuf sich das Unternehmen mit cleverem Marketing seinen eigenen Markt. „Jeder kann Kaugummi herstellen“, sagte Firmengründer William Wrigley 1925. „Der Trick ist, ihn zu verkaufen.“

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Auch in Europa kaute man schon vorher ganz gern, doch so richtig populär wurde Kaugummi erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Unvergessen in diesem Zusammenhang ist der amerikanische Pilot Gail Seymour „Hal“ Halvorsen: Während der Berliner Luftbrücke 1948/49, als Flugzeuge die Berliner im von der Roten Armee blockierten Westteil der Stadt aus der Luft versorgten, wurde Halverson als „Candy Bomber“ weltberühmt. Der Grund: Bevor er sein Flugzeug aus Westdeutschland kommend mit frischer Ladung auf dem Flughafen Tempelhof landete, warf er für die Kinder, die auf den Trümmerbergen warteten, an kleinen Fallschirmen befestigte Süßigkeiten ab, darunter Schokolade, Bonbons – und Wrigley’s Spearmint.

Der „Candy Bomber“: Pilot Gail S. Halvorsen warf während der Berliner Luftbrücke tonnenweise Süßigkeiten für hungernde und traumatisierte deutsche Kinder ab – darunter auch Wrigley’s Spearmint.Der „Candy Bomber“: Pilot Gail S. Halvorsen warf während der Berliner Luftbrücke tonnenweise Süßigkeiten für hungernde und traumatisierte deutsche Kinder ab – darunter auch Wrigley’s Spearmint.

Der „Candy Bomber“: Pilot Gail S. Halvorsen warf während der Berliner Luftbrücke tonnenweise Süßigkeiten für hungernde und traumatisierte deutsche Kinder ab – darunter auch Wrigley’s Spearmint.

© Quelle: picture-alliance/ dpa/dpaweb

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Weil die „Rosinenbomber“ im 90-Sekunden-Takt einflogen, war für die Kinder, die auf den Trümmern am Boden sehnsüchtig auf Süßes warteten, nur schwer zu erkennen, wann Halverson mit neuen Schätzen einflog. Also gewöhnte sich der „Candy Bomber“ an, kurz vor der Landung in der Luft mit den Tragflächen seines Flugzeugs zu wackeln, was ihm zusätzlich den Spitznamen „Uncle Wiggly Wings“ („Onkel Wackelflügel“) bescherte. Halverson und seine Crew warfen zuletzt mehr als 400 Kilogramm gespendete Süßigkeiten pro Tag ab – insgesamt mehr als 23 Tonnen während der Luftbrücke. Er habe, sagte er später, den vom Krieg und Hunger zermürbten und seelisch verletzten Kindern eine Freude machen wollen. Später war Halverson einige Jahre Kommandant des Flughafens Tempelhof und erhielt das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland und den US-amerikanischen Militärorden Legion of Merit.

„Der süße Geschmack der Freiheit“

Die Bilder amerikanischer Soldaten, die vom Panzer herunter Süßigkeiten und Zigaretten verteilten, wirken ohne Zweifel im kollektiven Bewusstsein bis heute nach. Das Verteilen von Süßigkeiten war ein wirkungsvoller Teil der Strategie zur Sympathiegewinnung. In der US-Army sprach man – analog zu Coca-Cola als „Milch der freien Welt“ – vom „sweet taste of freedom“, dem süßen Geschmack der Freiheit, der ausgehend von den Stränden der Normandie nach dem D-Day die Befreiung Europas begleitete. M&Ms etwa wurden überhaupt nur erfunden, um US-Soldaten eine transportable, weniger schmelzanfällige und stabilere Schokolade zur Verfügung stellen zu können. Unvergessen und millionenfach verschenkt ist auch die Ration-D-Militärschokolade (Hershey Bar). Nach Schätzungen wurden zwischen 1940 und 1945 mehr als drei Milliarden Ration D- und (hitzebeständigere) Tropical-Riegel produziert und an US-Truppen auf der ganzen Welt verteilt.

Der „süße Geschmack der Freiheit“: Ein US-Soldat verteilt 1945 Süßigkeiten an Kinder. Der „süße Geschmack der Freiheit“: Ein US-Soldat verteilt 1945 Süßigkeiten an Kinder.

Der „süße Geschmack der Freiheit“: Ein US-Soldat verteilt 1945 Süßigkeiten an Kinder.

© Quelle: US Soldat

Doch die leise Wehmut, die mancher Kaugummifreunde angesichts des Endes von Spearmint nun verspürt, hat ihre Ursache natürlich nicht in der Historie, sondern im individuellen Verlust eines weiteren Kindheitsmerkmals. Im Internetportal Reddit, von dem aus die Meldung über das Aus der Marke Spearmint ihre Kreise bis in die Mainstreammedien zog, kommentieren Hunderte den Vorgang. „Lasst uns zusammen die Kaugummirevolution starten“, schreibt der Nutzer, dessen ursprünglicher Post die Nachricht publik gemacht hatte. Er zitiert aus einem Schreiben der Firma Mars, in dem es heißt: „Wir verstehen Ihre Enttäuschung, müssen Ihnen jedoch mitteilen, dass wir das Format der Kaugummistreifen komplett aus unserem Sortiment genommen haben.“ Man hoffe „dennoch, dass Sie in unserem umfangreichen Produktsortiment eine leckere Alternative finden“.

Andere kommentieren in fröhlicher Ironie, dass sich die Erde nun mal weiterdrehe. „Ich bin schockiert. Erst Punica und jetzt das. Das gute alte Telegramm ist passé. Klinkenstecker gibt es auch kaum noch. Demnächst schaffen die wohl noch das Fax ab“, scherzte einer. Ein anderer warnte vor weiteren Produkstionsstopps für nostalgisch verklärte Kindheitsprodukte: „Nimm mir mein Capri-Eis und ich werde Steine sammeln und den Großunternehmen den Arsch wegschnipsen“, drohte er im Scherz. „Das schwöre ich auf meine Schnapspralinen.“

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